Einsamkeit total: Zum Nordkinn, der nördlichsten Festlandsspitze unseres Kontinents
von J. Hermann
Immer schon trieb es mich, einen Extrempunkt der Erde aus eigener
Kraft zu erreichen. Jahrzehntelang mußte dieses Vorhaben hinter
anderen Prioritäten zurückstehen. Jetzt, mit über siebzig, bin ich
für Everest, Nord- oder Südpol schon ein bißchen zu verschlissen.
So ließ ich mich von einem Paar anstecken, dem ich in der Wildnis
Lapplands begegnete. Die beiden wanderten von Bodö an der Westküste
Norwegens quer durch die Finnmark zum Nordkinn. Jeden Sommer machten
sie dort weiter, wo sie im Jahr zuvor aufgehört hatten.
Nordkinn - was ist denn das? Wo liegt es?
Alljährlich zieht es Tausende aus südlicheren Ländern zum Nordkap,
dem nördlichsten Punkt Europas. Die meisten rollen im Auto dorthin,
ein paar Unentwegte mit dem Fahrrad. Daß dieses Kap gar nicht zum
Festland gehört, sondern auf der Mageröy (öy=Insel) liegt, stört
kaum einen. Ich gebe ja zu: Ich war auch dort, vor dreißig Jahren,
und eigentlich ohne es zu wollen. Warum dann doch, das zu erklären
würde eine eigene Story füllen...
Die echte Nordspitze unseres Kontinents, das "Nordkinn", befindet
sich 65 km ostwärts und nur einen zwanzigstel Breitengrad
südlicher. Während am Nordkap die Touristen Schlange stehen, um
sich abkassieren zu lassen, ist auf dem Nordkinn Einsamkeit
garantiert. Kein Wunder: Es gibt keine Straße;, nicht einmal einen
Trampelpfad dorthin: Wildnis pur.
Noch im selben Sommer versuchte ich es. Meine Idee war, "einfach"
der Telegrafenlinie zu folgen, die den kleinen Eismeerhafen Mehamn
mit dem Süden verband. Erst nach zwei Tagen ging mir auf, daß ich
mich gleich beim Start um viele Kilometer verhaün hatte - eine
dumme Verwechslung und eine grobe Karte waren schuld - und in der
restlichen Zeit das Ziel niemals erreichen konnte. Der Rückmarsch
bei zeitweise aufliegenden Wolken machte die Risiken deutlich, die
ich bei dem spontanen Aufbruch eingegangen hatte. Mit viel Glück
fand ich den Weg zurück, den ich gekommen war.
Zwei Jahre später - die beiden Wanderer von damals hatten ihr Ziel
inzwischen erreicht - versuchte ich es wieder, mit detaillierten
Karten versorgt und von zwei jungen Freunden begleitet. Wie geplant
folgten wir der endlosen Kette der Telegrafenmasten. Auf dem
Ifjordfjell überfiel uns ein Wettersturz. Der Boden, teils moorig
und quitschnass, teils grob geröllig, machte Zelten illusorisch. Vor
Hagel, Schnee und Sturm fanden wir Zuflucht in der "Telegrafstü",
dem einzigen Unterschlupf weit und breit. Längst verlassen und dem
Verfall preisgegeben, bot sie notdürftigsten Schutz. Nach 36 Stunden
vergeblichen Wartens auf besseres Wetter kehrten wir um.
Der dritte Anlauf: Inzwischen hatte man die Straße; 888 von Ifjord
zur Kalak-Fähre über Bekkarfjord hinaus bis nach Mehamn ver-
längert. Sozusagen brandneu: Die alten Schilder waren noch nicht
ausgetauscht. Nur der tote Fährhafen und "reger" Verkehr von und
nach Norden (fünf Autos pro Stunde) ließen ahnen, daß man jetzt
bequem über das Fjell fahren könnte, das uns so brutal abgewiesen
hatte.
So war es. Unter heiter-blaüm Himmel rollte ich nach Mehamn. Die
über 100 Kilometer zum Nordkinn waren auf ein Fünftel geschrumpft.
Sollte ich das Kajak flott machen oder zu Fuß gehen? Den Füssen
traute ich mehr zu als den Händen; außerdem: Sollte ich das Ziel,
dessen Besonderheit ja gerade der Landzugang ist, auf dem Wasser
ansteuern? Und: Würde mich wieder ein Unwetter heimsuchen, so waren
meine Chancen an Land wohl besser als auf See.
Zwei Kilometer südlich Mehamn liegt ein Parkplatz mit Bach und
Mülltonne an der Straße;. Der wurde mein Stützpunkt, nachdem ich
erkundet hatte, daß andere, vielleicht günstigere Startstellen
durch den Flughafen blockiert sind. Auf der Karte arbeitete ich die
Route aus, die ich gehen wollte: erst auf kürzestem und möglichst
"ebenem" Wege nach NW zum Hauptkamm, der in das Nordkinn ausläuft;
dann auf diesem Kamm nordwärts.
Über die Bodenbeschaffenheit verriet die Karte nichts, und ihre
Höhenlinien im 30 m-Abstand waren eigentlich zu grob. Wie und worin
unterschied sich die Nordkinn-Halbinsel vom Ifjordfjell, über das
ich bei den ersten Versuchen nicht hinausgekommen war? Wie schwer
sollte/durfte ich mich beladen? Daß das Zelt mit mußte, war klar -
40 km Wildnis ohne Biwak traute ich mir nicht mehr zu. Beim Proviant
war ich geiziger: Ich kann schon mal einen oder zwei Tage hungern.
17 kg hatte ich auf dem Buckel, als ich losmarschierte. Erstes
Hindernis: der wasserreiche Mehamnelv. Ich fand eine Stelle, wo er
sich stark verbreitert und verflacht; meine Gummistiefel reichten
hoch genug. Dann ging's leicht ansteigend, manchmal sumpfig, fast
überall grün bewachsen, zum Rand der Sörfjordelv-Rinne. Absteigen,
waten, dann wieder bergauf: Schade um die Höhenmeter! Über mir
zogen Schönwetterwolken nach Südosten: Ich freute mich auf eine
Mitternachts- Sonnen-Rast am Ziel. Zur Rechten, schon klein wie
Spielzeug, grüßte das bunte Städtchen Mehamn, blaßblau dahinter
das unendliche Eismeer. Ringsum Grün, darüber felsig- geröllige,
aber zahm anmutende Berge.
Allmählich veränderte sich das Gelände. Je höher ich stieg, umso
mehr blieb das Grün zurück, und das Geröll, das aus der Ferne so
feinkörnig ausgesehen hatte, erwies sich aus der Nähe als grob bis
saugrob. Längst hatte ich die Baumgrenze unter mir, und nun wurden
auch die Sträucher selten. Das Gehen entwickelte sich zum mühsamen,
oft riskanten Balancieren und Springen von Stein zu Stein. Die Täler,
die ich auf dem Wege zum Hauptkamm zu queren hatte, verlangten weite
Umwege, wenn ich dem gröbsten Schotter ausweichen wollte. Oft genug,
vor allem bergab, wenn die Steine jeden Einblick verwehrten, blieb mir
gar nichts anderes übrig, als geradeaus über die Felsblöcke zu
stolpern. Die Gegenhänge boten mehr Einsicht, und so konnte ich für
die Anstiege oft Routen mit viel Grün und wenig Geröll aussuchen.
Blau schimmernde Seen - viele von einem ungastlichen Blockmeer umgeben -
lockerten das Bild der Steinwildnis auf, durch die ich nun wanderte.
Weit draußen im Eismeer schwamm eine Fischereiflotte. Daürnd schien
sich die Formation zu verändern: Die hohe Dünung verdeckte die Fahr-
zeuge abwechselnd. Ob ich mich auf See wohler gefühlt hätte als hier?
Der letzte Aufstieg zum Hauptkamm führte über Schneefelder. Am
Rande einer weißen Fläche weideten zwei Rentiere. Fanden die dort
etwas Freßbares oder hatten sie nur Lust auf Gefrorenes? Endlich war
ich oben. Die Wildnis hatte mir wieder einmal ihre Messlatte gezeigt:
Fast sieben Stunden für neun Kilometer Luftlinie und ganze 250 Meter
Höhengewinn... Ob die Strecke zum Nordkinn bis Mitternacht zu
schaffen war?
Jeder Hochpunkt des Kammes trägt ein Steinmal. In dieser
Mondlandschaft, die für mich bei allem Reiz überall irgendwie
gleich aussah, brauchte ich Hilfen zum Zurückfinden. Bei meinem
schwachen Bildergedächtnis muß ich mir Einzelheiten im Gelände mit
Worten merken. Den Seen, an denen ich entlangwanderte, gab ich
eigene Namen, um sie mir einzuprägen ("Insel-See", "Rippen-See",
"Mondsichel-See"). An Stellen, die mir kritisch erschienen, baute
ich Steinmänner auf; auch einen da, wo ich den Kamm erreicht hatte.
Der Rücken zeigte sich viel unebener als die Karte erwarten ließ.
Die oft senkrechte Gesteinsschichtung endete an der Oberfläche in
Feldern scharfer Rippen, spitzer Nadeln oder war zu grobem Schotter
verwittert. Wo immer ich "Grün" fand, verfolgte ich es. Die Rentiere
gaben mir wertvolle Tips mit ihren Pfaden, die schon von vielen
Generationen ausgetreten waren. Schließlich lernte ich auch, ihre
Fährten im Geröll zu erkennen und zu verfolgen. Die intelligenten
Tiere finden die kürzesten Furten von Grün zu Grün. Allerdings
strebten sie meist woanders hin als ich...
Der Kamm wird immer wieder von Einsattelungen unterbrochen. Keine
tiefen Scharten, mal dreißig, mal sechzig Meter, aber jedesmal
über schlecht einsehbares Geröll. Nachher, beim Wiederaufstieg
konnte ich sehen, wie ungeschickt meine Abstiegsroute gewählt war -
nur: Was nützte die späte Erkenntnis?
Bei der dritten oder vierten Delle lockte rechts unten ein See mit
einer richtigen Uferwiese. Das Gras war zwar hart und mit noch
härteren, teils stachligen Kräutern durchsetzt, aber ob ich so ein
Idyll noch einmal finden würde ? Die Entscheidung fiel rasch:
"Mitternacht am Nordkinn" fällt aus - neun Stunden Schwerarbeit
waren genug! Bald stand das Zelt. Die Sonne wärmte wohlig, und das
glasklare, aber eiskalte Wasser des Sees verführte mich zu einem
erfrischenden, wenngleich sehr kurzen Bad.
Hungrig ? Natürlich! Jetzt tat es mir leid, daß ich nicht ein paar
Gramm mehr eingepackt hatte, nicht einmal eine zweite Kartusche für
den Kocher (die angebrochene hat dann viel länger als befürchtet
ausgereicht). Wo war der Tee? Vergessen! So kochte ich "Tee" aus
Rosinen und ein paar Kräutern von der Wiese und aß eine Tafel
Schokolade dazu. Trotz strahlender Sonne schlief ich sofort ein.
Irgendwann in der taghellen Nacht weckten mich Stimmen: Nanu - war
ich doch nicht ganz allein? Raus ins Freie: In respektvollem Abstand
diskutierten einige Rentiere, was von dem ungewohnten Objekt und
seinem Bewohner zu halten sei.
Kurz nach fünf Uhr morgens war ich wieder marschbereit. Meine
Strategie hieß nun: Das Zelt mit allem Entbehrlichen stehen lassen
(auf dem Rückweg hoffentlich nicht verfehlen), und mit leichtestem
Gepäck die zweimal acht Kilometer zum Ziel und zurück gehen. Der
Himmel war weniger freundlich als gestern - ob es noch den ganzen
Tag über trocken bleiben würde? Nasses Geröll - davor hatte ich
die meiste Angst.
Noch einen letzten Blick zum Zelt am See und rundum, um mir den
Platz zu merken. Dann marschierte ich wieder auf dem breiten Kamm,
verfolgte die seltenen grünen Streifen. Voraus lag der zweihundert
Meter hohe Ost-Abbruch vom Fjell zum Eismeer. Mein "Weg" verlief
zwischen 200 und 250 m Höhe und wandte sich in einer weiten, tiefen
Mulde von NNO nach NNW auf die letzte Hochfläche. Unübersehbar
deutlich blieben nun die Steilküsten zu beiden Seiten zurück,
wanderten nach Süden achteraus. Im Westen, gerade eben noch als
Schatten auszumachen, schob sich das Nordkap ins Bild. Von meinem
Ziel, dem Nordkinn, hatte ich bis dahin noch nichts sehen können -
der breite, hohe Rücken, den ich nun ersteigen mußte, deckte es ab.
Oben, 300 m über dem Meer, breitete sich vor mir eine sanft
ansteigende, überraschend leicht gangbare Fläche aus, mit viel
Bewuchs. Rentierherden weideten die Grünflecken ab.
Endlich hatte ich den höchsten Punkt überschritten, bekam zum
ersten Mal die Spitze des Nordkinn-Felskegels zu Gesicht. Weiter
rechts, am Rand des Fjells, dicht vor dem Abbruch zum Meer, sprang
mir etwas in die Augen, was ganz und gar nicht hierher passte: ein
Flugzeug!
Die Wanderfreunde hatten berichtet, daß sie kurz vor dem Nordkinn
auf das Wrack einer Ju 88 gestoß seien. Später hatte mir jemand
erzählt, es sei geborgen worden. War inzwischen wieder einer hier
oben notgelandet? In der riesigen Weite nahm sich die Maschine klein
wie ein Sportflugzeug aus. Natürlich zog es mich geradeswegs
dorthin. Der Vogel war die Ju 88 von damals. Unübersehbare Spuren
verrieten, daß das Wrack irgendwann ausgeweidet worden war. (Später
erfuhr ich durch einen norwegischen Experten mehr über die Not-
landung im Februar 1943 und entdeckte dann einen Neffen des
Bordfunkers unter meinen Arbeitskollegen - die Welt ist klein... )
Wie unterschiedlich hatten sich die verschiedenen Teile in fast 50
Jahren verändert: Die Bleche sahen wie neu aus, manch anderes war
zu Pulver zerfallen. Die "Verwerter" hatten das Flugzeug gründlich
demoliert; als "bergungsunwürdiger Schrott" wird es nun wohl noch
für Jahrhunderte die Wildnis "zieren".
Minuten später erreichte ich den Abfall zur letzten Senke vor dem
Nordkinn-Felsen: Grober Schotter, so steil, daß ein ungeschickter
Tritt alles ins Rutschen bringen konnte; kaum ein Fleckchen Grün
dazwischen. Unschlüssig schaute ich in die Tiefe: Sollte ich die
schwierige und gefährliche Kraxelei wagen? Dann siegte der Ehrgeiz.
Noch eineinhalb Kilometer: So dicht vor dem Ziel umkehren? Nein!!
Beinahe zweihundert Höhenmeter mußte ich abkraxeln. Ob sich für
den Rückweg eine bessere Route finden liess? Am Gegenhang konnte ich
fast durchgehend auf "Grün" steigen. Noch ein letzter Graben, dann
lehnte ich meinen Rucksack an die Steinpyramide, die das Nordkinn
krönt. Die Sonne strahlte zwischen dünnen Wolken - sie wärmte,
aber sie brannte nicht. Ein einsames Schifflein pflügte das Meer.
Nur schwach drang das Rauschen zu mir herauf. Stille und Einsamkeit
rundum! Ich brauchte eine Weile, um zu begreifen, daß ich
"angekommen" war, jenen Punkt erreicht hatte, dem jahrelang mein
Sinnen und Trachten gegolten hatte. Für Augenblicke huschte der
Gedanke durchs Gehirn: "Wenn mir nun etwas zustieße?" Ich hatte in
keiner Weise vorgesorgt. Die nächsten Menschen wohnten in Mehamn, 13
Kilometer entfernt, ohne Sichtverbindung hierher. Der Triumph
verdrängte alle Gedanken an irgendein Mißgeschick.
Leichter Südostwind versprach beständiges Wetter und es blieb Zeit,
das Gipfelerlebnis voll auszukosten. Alles Land, so weit ich sehen
konnte, war nun "unter" mir, südlicher als ich - der Schatten
"Nordkap" zählte nicht - und ich hatte es aus eigener Kraft
geschafft!
Nicht leicht, sich wieder loszureißen! 13 Stunden Marsch lagen vor
mir. Insgeheim hoffte ich, manchem Geröll besser ausweichen zu
können als auf dem Hinweg. Wirklich: Von gegenüber fand ich eine
halbwegs "grüne" Anstiegsroute durch den steilen Hang, der mich
zuletzt noch hatte stoppen wollen. Die Ju 88 war keinen zweiten
Umweg wert. An der Talschulter des Sandfjordelven boten sich lange
grüne Abschnitte an. Mein Rückweg geriet entschieden bequemer als
der Hinweg, allerdings auch länger. Vor mir die Einsattelung mit See
und Wiese: Wo war das Zelt? Ach ja, ich ging ja weiter westlich als
am Morgen - endlich sah ich es. Erleichtert ruhte ich zwei Stunden
lang aus - zum Schlafen war ich viel zu aufgedreht.
Voll bepackt marschierte ich weiter, hielt mich noch dichter an den
Sandfjordelv als vorher - das Zelt brauchte ich ja nicht mehr zu
suchen - und nutzte jedes grüne Fleckchen aus. Seine Zuflüsse und
Seen gaben zuverläßig Auskunft, wo ich mich gerade befand. Früher
als gedacht war ich dort, wo ich auf dem Hinweg den Kamm erreicht
hatte, aber ich erkannte die Gegend nicht wieder. Mißtrauisch ging
ich im Kreis, fand den Steinmann von gestern. Gottseidank!
Nun, da der kritischste Punkt hinter mir lag und der restliche
Rückweg nichts eigentlich Neues, nur noch mühsames Kraxeln und
Latschen verhieß, war plötzlich "die Luft 'raus". Fast achtlos
stolperte ich, noch nahe der Kammhöhe, an einer steinernen
Unterkunft vorbei, die ich gestern nicht bemerkt hatte - unfähig zu
den hundert Metern Umweg, die das Ansehen gekostet hätte. Der
Fotoapparat blieb fast arbeitslos im Rucksack. Ich brauchte alle
Kraft, die mir blieb, für den Marsch über Geröll, bergab, durch
einen Wasserlauf, wieder bergauf, und immer noch einmal. Der Wind
frischte auf und machte mir das Balancieren über die groben
Steinbrocken schwer. Hätte ich es mit einem oder zwei Stöcken
leichter gehabt?
Im selben Masse, wie die Landschaft wieder an Vielfalt gewann,
erkannte ich Einzelheiten vom Hinweg wieder, konnte bessere Routen
nutzen als zuvor. Da rauschte die Kaskade, an der ich gestern
Mittagsrast gehalten hatte; später kletterte ich über einem
unsichtbar in der Tiefe rauschenden Bach aufwärts zum nächsten See,
viel einfacher als die Schotter-Route vom Vortag... Endlich stand
ich in der letzten hohen Einsattelung, konnte hinunter nach Mehamn
sehen, das in der diesigen Helle der arktischen Nacht wie unwirklich
dalag. Steil ging's abwärts zum Sörfjordelv, eine seichte Stelle
zum Waten war zu suchen, noch einmal aufzusteigen. Dann kam der
lange, wellige Abstieg zum Mehamnelv - eine fast endlose Stunde. Mit
letzter Anstrengung durchwatete ich den Fluß, kletterte die steile
Böschung zur Straße; empor, torkelte zum Auto. Elf Uhr: Vor dreizehn
Stunden noch hatte ich auf dem Nordkinn gestanden... Eine bis dahin
aufgesparte Dose Bier und ein üppiges Mahl erweckten die
Lebensgeister wieder.
Irgendwann später unterbrach das sanfte Trommeln des feinen
arktischen Regens meine Träume: Ich hatte wieder einmal Glück
gehabt.
Am übernächsten Tage besuchte ich - bei strahlendem Sonnenschein -
die "Telegrafstü" auf dem Ifjordfjell, die uns damals gerettet
hatte: Noch ein bißchen stärker angenagt, aber noch immer mit
heilem Dach. Jetzt holte ich das seinerzeit versäumte Foto nach...
Im Sommer 1994 besuchte ich die Nordkinn-Halbinsel wieder, diesmal
begleitet von unserem jüngeren Sohn und dessen Frau. Aus der
geplanten Wiederholung der Wanderung wurde nur ein ausgedehnter
"Spaziergang". Die "Kinder", weniger berggewohnt als ich, empfanden
die Kraxelei über urweltliche Blockmeere und kirchendachsteile
Hänge als "lebensgefährlich" und streikten, als heftiger Wind und
dunkle Wolken aufkamen. Der Regen, den sie ankündigten, ließ sich
allerdings noch einen Tag Zeit... Die Telegrafstü, die schon der
Erinnerung wegen wieder besucht werden mußte, war inzwischen
gründlich zerstört worden. Ganz offensichtlich hatte jemand
Gefallen an den gut erhaltenen Balken gefunden, aus denen die Wände
erbaut waren. Alles übrige ließ man als Trümmerhaufen liegen. Ich
hatte den Norwegern eigentlich etwas mehr Respekt vor ihrer eigenen
Geschichte und deren Zeugnissen zugetraut...
Nordskandinavien
Das Land der Mitternachtssonne ist von Deutschland ungefähr 3000
Reisekilometer (einfach) entfernt. Daher lohnt es sich, über
Verkehrsmittel und Reiseroute dorthin nachzudenken.
Die drei Länder Norwegen, Schweden und Finnland haben weitgehend
offene Grenzen gegeneinander. Finnland hat sich in der Zeit des
sowjetischen Einflusses ein wenig von seinen Nachbarn abgesetzt und
führt z.B. an manchen Grenzübergängen von Schweden und Norwegen
Zollkontrollen durch. In umgekehrter Richtung habe ich noch keine
Kontrolle erlebt.
Die Eisenbahn bringt einen in Norwegen bis Fauske, etwa 100 km
nördlich des Polarkreises, in Schweden bis Kiruna und von dort auch
nach Narvik in Norwegen. In Finnland endet die Bahn in Rovaniemi am
Polarkreis.
Weiter nördlich gelangt man in allen drei Ländern per Bus. Die
Busfahrpläne sind aufeinander abgestimmt, so daß man auf den Haupt-
Durchgangsstrecken auch mit Umsteigen recht flott vorankommt.
Allerdings bedeutet jeder versäumte (Bahn- oder Bus-) Anschluß im
Norden einen halben bis ganzen Tag Wartezeit.
Jugendliche, Studierende und Rentner erhalten auf fast allen
skandinavischen Verkehrsmitteln Ermäßigungen bis 50 Prozent.
Anreise nach Mehamn mit dem Wagen:
Am schnellsten kommt man auf der Europastraß 4 voran, die als
"Vogelfluglinie" zwischen Fehmarn und Dänemark beginnt und entlang
der schwedischen Ostseeküste nach Norden führt. Vom finnischen
Kemi fährt man auf der Nationalstraß 4 über Rovaniemi nach Inari,
dann über Utsjoki nach Tana bru in Norwegen, von dort auf der
Straße; 98 nach Ifjord und auf der Straße; 888 nach Mehamn. Dieselbe
Route kann man ab Rovaniemi auch mit Linienbussen fahren.
Eine landschaftlich lohnende Alternative bietet die Europastraß 6
in Norwegen, der man bis Lakselv am Porsangerfjord folgt. Dann
fährt man auf der Straße; 98 weiter nach Ifjord und von dort nach
Mehamn. Dieselbe Route ist ab Fauske mit Linienbussen zu fahren.
Auch die schwedische "Inlandsroute", die in Örebro von der
Europastraß 3 abzweigt, bietet landschaftlich viel Reizvolles.
Parallel dazu kann man mit der Bahn reisen, muß dann ab Gällivare
in den Bus umsteigen. In der Verlängerung nach Norden stößt man
nach einer kurzen Strecke durch Finnland im norwegischen Alta auf die
E 6. Auch diese Strecke wird von Bussen befahren. Busfahrpläne
bekommt man in den Touristenbüros und Postämtern.
Anreise mit dem Flugzeug:
Mehamn wird täglich zweimal von einer Linienmaschine angeflogen,
die in Lakselv Anschluß an das skandinavische und europäische
Luftverkehrsnetz hat.
Besonderheiten der "Nordkalotten"-Region:
Als "Nordkalotte" bezeichnet man die "Kappe" des Globus zwischen
Polarkreis und Nordpol. In dieser Region wird es von Mitte April bis
Ende August nicht finster. Die Nächte sind umso heller, je weiter
man nach Norden vordringt. Am Polarkreis geht die Sonne einen Tag
lang (Sommersonnenwende) nicht unter, am Nordkap scheint sie
ungefähr 80 Tage ohne Unterbrechung. Man kann also im Sommer die
meisten "Outdoor"- Aktivitäten ohne Rücksicht auf die Tageszeit
unternehmen. Viele Wanderungen und Bergtouren sind gerade "nachts"
besonders reizvoll.
Die norwegische Küste wird bis weit um das Nordkap herum vom
Golfstrom umspült und gewärmt. Das führt an den Gebirgshängen zu
hohen Niederschlagsmengen, die nach Norden hin und landeinwärts
nachlassen. Der Regen im hohen Norden ist oft fein, aber
durchdringend. Gewitter und Wolkenbrüche sind selten. Manchmal
fällt auch in tiefen Lagen noch im Juni und schon im August Schnee.
Der erste Frost tritt oft schon Ende August auf.
Etwas Politik und Geschichte
Norwegen war von 1940 bis 1945 von deutschen Truppen besetzt. Nach
dem Ausscheiden Finnlands aus dem Krieg (Herbst 1944) stiessen
sowjetische Truppen an der Eismeerküste nach Westen vor. Die
Wehrmacht hinterließ auf dem Rückzug "verbrannte Erde" von Kirkenes
bis zum Ostufer des Lyngenfjords; die Bevölkerung wurde zwangsweise
evakuiert. Manche Norweger, vor allem solche, die damals Haus, Hof
und Schiffe verloren, stehen deshalb deutschen Touristen noch immer
reserviert gegenüber.
Zu der Nordkinn-Wanderung:
Da es keinen bezeichneten Pfad gibt, muß jeder selbst suchen, wo und
wie er am besten vorankommt. Der alte Hunderttausender-Kartensatz
ist mittlerweile durch einen Fünfzigtausender-Satz abgelöst. Man
bekommt die regionalen Blätter in allen größeren Orten, z.B. beim
Konsum ("Samvirkelag") für umgerechnet etwa 8 DM pro Blatt.
Der größte Teil der Anmarschroute ist von keiner Siedlung her
einsehbar - auch das Nordkinn ist von Mehamn aus nicht sichtbar. In
seiner näheren Umgebung gibt es kein bewohntes Anwesen mehr (einige
verlassene Höfe am Sandfjord sind vielleicht noch als Notunterkunft
geeignet). Deshalb sollte man zu mehreren gehen oder hinterlassen,
was man vorhat (z.B. am Flughafen). Eventuell läßt man einen, der
keine Lust zum Mitgehen hat, an der Straße; zurück; am besten mit
einem Funksprechgerät. Vor dem Abmarsch vereinbaren, wann man
Kontakt aufnimmt und auf welchem Kanal (z.B. alle zwei Stunden
zwischen morgens und abends).
Ausrüstung: Junge Leute können die 40 Kilometer vom Parkplatz zum
Nordkinn und zurück eventuell ohne Biwak durchziehen. Anderenfalls
ist komplette Biwakausrüstung unerläßlich. Ein warmer Schlafsack
gehört dazu. Auch die Kleidung muß für alle Eventualitäten
geeignet sein: Ein Wettersturz am Eismeer ist genauso gefährlich wie
in den Bergen.
Schuhwerk: Das Nordkinn ist keine Halbschuh-Tour! Gummistiefel oder
Bergschuhe: Die Einheimischen gehen weit überwiegend in
Gummistiefeln. Bergschuhe müßte man zum Waten gegen Turnschuhe
tauschen. Barfuß-Waten ist wegen der scharfkantigen Steine nicht zu
empfehlen. Notfalls geht es sich in nassen Bergstiefeln auch ganz
passabel.
Trinkwasser findet man in fast allen Niederungen. Die letzte sichere
Wasserstelle vor dem Nordkinn bietet der See (273) auf der
Hochfläche.
Im Notfall:
Flugzeuge, die Mehamn anfliegen (nur wenige pro Tag) kommen zum Teil
von Südwesten und überfliegen den Nordkinn-Rücken in relativ
geringer Höhe. Es besteht daher Aussicht, bemerkt zu werden, wenn
man das Signal "H" für "help" mit Ausrüstungsteilen großflächig
und auffällig auslegt. Daß eine Bergungs-Aktion bezahlt werden muß
und teuer wird, braucht wohl nicht betont zu werden.
Ob die im Bericht genannte steinerne Unterkunft am Hauptkamm
bewohnbar ist, möge der nächste feststellen, der dort vorbeikommt!
Es ist möglich, sich von Mehamn aus mit einem Boot an die
Nordkinn-Ostküste fahren und sich dort absetzen zu lassen. Der
Aufstieg aufs Nordkinn ist Geröllkraxelei und entsprechend
anspruchsvoll.
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